Untold Story: “Genialer Einfall vermeidet Abriss und Neubau”

Genialer Einfall vermeidet Abriss und Neubau

 

„3,9 Zentimeter sind nicht 4 Zentimeter!“, kommentierte der Besitzer eines angrenzenden Hauses. Eine Gebäudetrennfuge mit einer Mindestbreite von vier Zentimetern soll die Erdbebensicherheit gewährleisten. So lautet die Vorschrift und sie gilt natürlich auch zwischen Neu- und Bestandbau.

Der Termin für die Fertigstellung kann glücklicherweise eingehalten werden. Denn der erwähnte Nachbar verlangte nicht weniger als ein gesamtes Geschoss abzureißen und neu zu bauen. „Unter Einhaltung des Mindestabstands von vier Zentimetern!“, wie er betonte. Doch der Bauleiter lehnte ab. Ein Abriss und Neubau sei seiner Ansicht nach unverhältnismäßig. Der Nachbar und sein Anwalt drohten daraufhin mit einem gerichtlichen Baustopp. So pedantisch dieses Verhalten auch erscheinen mag, sie waren im Recht.

Wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass die Gebäudetrennfuge zu schmal geraten ist?

Nachdem mehrere alte Gebäude für dieses Projekt abgerissen wurden, erhielt der freigelegte Giebel des angrenzenden Hauses eine Dämmung und Unterspannbahnen – so, wie es allgemein üblich ist. Eine solide Lattung mit Konterlattung befestigte die Schutzkonstruktion.

Der neue Giebel sollte nun in einem Abstand von mindestens vier Zentimetern zur Lattung entstehen. Denn die Lattung gehört rechtlich gesehen zum alten Gebäude, an dem sie befestigt war. Doch bedauerlicherweise ist da etwas schiefgelaufen. Es stellte sich heraus, dass der alte Giebel nicht nur diverse Vorsprünge hat, sondern auch Unebenheiten. Das führte letztendlich dazu, dass der geforderte Mindestabstand nicht an jeder Stelle eingehalten wurde.

Der engagierte Hausbesitzer vermutete es – wissen konnte es zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Die neue Wand war längst fertig und selbst der Rohbau des Dachbodens war schon abgeschlossen. Die gesamte Verlattung war hinter der 25 Zentimeter dicken Betonwand und einer zusätzlichen Dämmlage verborgen.

Gewusst wo: Alle Kreuzungspunkte genau gefunden

Geholfen hat uns, dass wir die gesamte Baustelle inklusive der Lage der Dachlatten systematisch und lückenlos dokumentiert hatten“, erklärt der Bauleiter. „Die dicksten Stellen der Lattenkonstruktion sind die Kreuzungspunkte. Deren Position hinter dem fertigen Giebel konnten wir genau rekonstruieren.“ An den errechneten 30 Stellen ließ er Kernbohrungen durch die Stahlbetonwand durchführen. Jede Bohrung traf exakt auf die erwarteten Kreuzungspunkte.

In den Bohrlöchern konnte nun die Dicke der Trennfuge gemessen werden. Bei einem gemeinsamen Termin mit dem Nachbarn, seinem Anwalt und dem Bauleiter haben sie jedes einzelne Bohrloch begutachtet. Von dieser Vor-Ort-Begehung stammt das obige Zitat des Hausbesitzers. An der ungünstigsten Stelle ermittelten sie eine Fugenbreite bis zur Lattung von 3,7 Zentimetern– drei Millimeter zu wenig.

„Der Abstand zwischen den beiden Giebeln war überall deutlich größer als vier Zentimeter und das ist eigentlich maßgeblich für die Erdbebensicherheit, aber Gesetz ist Gesetz“, erläutert der Bauleiter. „Der Nachbar hatte keinen Nachteil durch die Verlattung, im Gegenteil: Je mehr Masse zwischen den Wänden, desto besser ist die Schall- und Wärmedämmung.“

Dachlatten aus der Gebäudefuge gezogen

Das Problem war also erkannt, präzise Messdaten lagen vor. Die entscheidende Idee für die Lösung kam schließlich von einem Handwerker. Mit einer selbstgebauten Spannvorrichtung gelang es, die Dachlatten über das Gerüst aus der Gebäudefuge zu ziehen. Dieser geniale Einfall ersparte endgültig teure und langwierige Nacharbeiten.

Bei einer zweiten gemeinsamen Begehung konnten sich der Nachbar und sein Anwalt selbst davon überzeugen, dass die Fuge nun überall größer als die in der Norm geforderten vier Zentimeter war. Der Bauleiter führte zu Demonstrationszwecken sogar stichprobenartig drei weitere Kernbohrungen durch. Anschließend wurden alle Bohrlöcher wieder mit den Bohrkernen verschlossen.

„Die Position der Latten war ja bereits dokumentiert. Aber jetzt“, resümiert er, „haben wir auch die frühzeitige Prüfung der Fugenbreite in den Prüfplan aufgenommen.“ Damit war die Causa Gebäudetrennfuge abgeschlossen und eine gerichtliche Auseinandersetzung mit all ihren Unannehmlichkeiten und Belastungen abgewendet. Der lückenlosen Dokumentation und dem Engagement des Baustellenteams sei Dank.

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